Die ersten Eindrücke von einem Land sammelt man in der Regel an der Grenze. Natürlich sollte man daraus nicht zu viel schlussfolgern. Trotzdem bleibt die erste Erfahrung oft in Erinnerung. So auch in Chile. Recht reibungsfrei haben wir Bolivien hinter uns gelassen und holpern 15 Kilometer durch Niemandsland zum chilenischen Grenz- und Zollposten. Mitten im Hochland liegt eine große (und verschlossene) Halle vor uns. Von Grenzbeamten keine Spur. Auch nicht nach mehrmaligen rufen, klopfen und hupen. Ich laufe einmal um die Halle herum und probiere jede Tür aus. Eine ist offen. Ich trete ein und rufe „Hola“. Ein Beamter erscheint. Grußlos nimmt er mich wahr und öffnet das Hallentor. Wir fahren rein. Wer nach Chile will muss zeigen was er alles dabei hat. Mit der Betonung auf „alles“. Und bei uns sind sie besonders gründlich. An keiner Grenze auf unserer Reise wurden wir so gründlich durchsucht, wie an dieser. Dachboxen, Mittelkonsole, Handschuhfach, unter den Sitzen und sämtliche Gepäckstücke werden nach verbotenem gesucht. Und dabei gehen die Beamten äußerst rabiat vor. Und sie werden fündig. Wir haben verbotene Einfuhrgüter dabei: Drei Knoblauchzehen und 8 Stück Brennholz. Ein schweres Vergehen, das normalerweise mit hohen Geldbußen bestraft wird (nachdem alles feinsäuberlich gewogen und vermerkt wurde). Aber die Beamten zeigen sich gnädig und wir kommen mit einem blauen Auge davon. Wir haben Mühe unsere Sachen wieder zu verstauen und darauf zu achten, dass nichts verschwindet. Unsere geschmuggelten drei Eier, eine Tomate und ein Honigglas haben sie nicht entdeckt. Nach 1,5 Stunden filzen sind wir dann endlich in Chile. Juhu.
Noch immer habe ich mit meiner Erkältung zu kämpfen, aber immerhin geht es jetzt bergab. Also auf niedrigere Höhen. Nach einer Stunde sind wir von 4.200 Meter auf 2.300 Meter gefahren. Das tut gut. Aber somit ist auch die Hitze zurückgekehrt. Schwitzend kommen wir im Ort San Pedro de Atacama an und suchen nach einer Unterkunft in der ich mich erholen kann. Schnell stellen wir fest: Hier braucht man das nötige Kleingeld. Unter 200 Euro pro Nacht für ein anständiges Dreibettzimmer findet sich hier kaum etwas. Nach Monaten in Südamerika ist das schon ein Schock für uns. Nach über eine Stunde suchen finden wir eine bezahlbare Unterkunft mit einem sicheren Parkplatz. Geschafft!
Die letzten zwei Wochen sind wir nur sehr wenigen Menschen begegnet. Es gab deutlich mehr Lamas, Alpakas und Vicunas als Menschen. Und die Menschen, denen wir begegnet sind, waren vom rauen Wüstenklima gezeichnet. Nun sind wir in San Pedro de Atacama. Einst eine kleine Wüstenoase und Knotenpunkt für Warentransporte. Bis es vom Abenteuertourismus entdeckt wurde. Ein perfekter Ausgangspunkt für Touren in die Wüste, zu Salzseen, heißen Quellen und Geysiren. 2008 besuchte ich zum ersten Mal diesen Ort. Damals gab es eine Handvoll Hostels, drei oder vier Restaurants und einen Supermarkt. Der Ort hatte den Charme einer Wüstenoase noch nicht verloren. Heute reiht sich ein Boutique-Hotel ans nächste, das Zentrum ist von Restaurants und Schnick-Schnack-Läden überfüllt und an jeder Ecke werden Drogen angeboten. Die Masse hat nun diesen traumhaften Ort entdeckt und ihm seinen Charme genommen. So richtig wohl fühlen wir uns hier nicht. Zwar erfreuen wir uns an einigen guten Restaurants und leckeren Craft-Bier (mittlerweile geht es mir schon so gut, dass ich wieder Bier trinken kann), aber das alles hat auch seinen Preis. Aus einem Restaurant gehen wir nach wenigen Minuten, obwohl wir schon Platz genommen hatten, als wir einen Blick auf die Preise in der Speisekarte geworfen haben. Wahnsinn!
Wir verlassen den San Pedro nach zwei Nächten. Der Pajero hat nach der Materialschlacht von Bolivien eine Kur verdient und bekommt eine Schaumwäsche. Dabei entdecke ich, dass die Halterung vom Wasserkanister am Reserverad an zwei Stellen gebrochen ist. 5mm Eisen einfach durch. Das passiert nach den Wellblechpisten vom Altiplano. Aber Mechaniker gibt es überall auf der Welt. Und die können schweißen. Und die legen sofort ihre Arbeit nieder, wenn man Hilfe braucht (das passiert wohl nicht in Deutschland). So auch hier in Chile. Nach einer halben Stunde kann die Halterung wieder sicher den Kanister umschließen.
Zudem habe ich meine Erkältung hinter mir gelassen (bzw. erfolgreich an Phia übertragen), sodass wir weiterfahren können. Wir wollen in der Wüste unser Camp aufschlagen. Gegenüber dem Altiplano sind zwar die Temperaturen deutlich milder, dafür gibt es hier genauso viel Wind. Vor den Toren des „Valle de la Luna“ (Mondtal) schlagen wir unser Camp auf. Rein dürfen wir in das Tal des Mondes nicht. Denn dazu braucht man ein Eintrittsticket (15 Euro pro Person, um Felsen zu sehen). Und das Ticket bekommt man nur am anderen Ende des Tals und nach vorheriger Online-Reservierung. Und dazu muss man wieder 20 Kilometer zurückfahren. Lange überlegen wir, dann entschließen wir doch die Hauptattraktion der Gegend zu besuchen. Es ist eine sehr schöne Wüstenlandschaft. Eine Landschaft, die man in vielen Teilen der Welt kostenfrei besuchen kann. Aber wir sind nun einmal hier, da sparen wir nicht an der falschen Stelle. Und genau das wissen die Chilenen. Uns wird diese Erfahrung, noch einige Male begleiten.
Nach einem weiteren schönen Wildcamp mit Blick auf die 6000er Berge in Bolivien heißt es Abschied nehmen von unserem letzten Gast auf unserer Reise. Ronny hat den schwersten Campingbedingungen getrotzt und hat nie gemurrt (es sei denn sein Bier war leer). Da fiel uns der Abschied schon etwas schwer.
Wir sind von mächtig viel Sand und Trockenheit umgeben. Die Wüste hat trotz aller Monotonie viel Schönes an sich. Doch nach reichlich einem Monat Wüste sehnen wir uns nach etwas grün. Da die Straßen auch recht gut sind, legen wir nun reichlich Kilometer zurück. In vier Tagen 1.700 Kilometer von Calama nach Valparaiso. Auf der Strecke wird es trotzdem nicht langweilig. Wir besuchen eine Geisterstadt, die jahrzehntelang vom Schwefelabbau lebte (bis die Deutschen rausgefunden haben, dass Schwefel auch chemisch gewonnen werden kann). Wir standen staunend an der wilden Brandung des Pazifiks und schauten zu, wie die Wüstensonne im Meer versank. Wir besuchten eines der größten Teleskope der Welt, dass Galaxien fotografiert hat, die Millionen von Lichtjahren entfernt liegen. Und wir entdeckten eine riesige Hand, die sich aus dem Wüstenboden der Atacama-Wüste erhebt.
In und um Valparaiso ist es nun endlich wieder grün. Wir sind in einer kleinen gemütlichen Unterkunft mit Garage für den Paji untergekommen. Für uns gibt es von der Dachterrasse einen traumhaften Blick auf den Pazifik. Die Stadt wurde durch den großen Überseehafen geprägt, die über die Jahre Menschen aus aller Welt anzog. Spuren von deutschen, polnischen, italienischen und ungarischen Einwanderern finden sich nicht nur auf den Klingelschildern. Es gibt ganze Wohnviertel die stark europäisch geprägt sind, Restaurants mit typischer Kost aus der Heimat und Werkstätten, die entsprechende Namen tragen. Da die Stadt unkontrolliert gewachsen ist und das Hinterland aus reichlich Hügeln besteht, wurden zudem Fahrstühle und Standseilbahnen installiert, dass man nach dem mühsamen Tag am Hafen nicht noch einen steilen Berg hinauf gehen musste. Diese Besonderheit verlieh der Stadt den Weltkulturerbetitel der Unesco. Und obwohl heute nur noch wenige der „Ascensores“ in Betrieb sind (und noch immer kostenlos zur Benutzung), so fühlt man trotzdem noch den Charme dieser besonderen Kulturgüter.
Ein weiteres besonderes Kulturgut Chiles ist der Wein. Valparaiso ist das Eingangstor zur Weinregion. Und die müssen wir uns natürlich auch anschauen. Wir organisieren eine Führung durch das Weingut „Viu Manet“ und bekommen eine großzügige Weinverkostung dazu. Die können wir beide auch genießen, da wir auf dem Parkplatz des Weingutes übernachten dürfen. Als wir mit einem guten Wein in der Hand vom Camp aus der Sonne beim Untergehen über die Weinreben beobachten, wissen wir einmal mehr, dass wir alles richtig gemacht haben. Heute lassen wir es uns richtig gut gehen.
Dass das Leben in diesem landschaftlichen Idyll nicht immer so einfach war, erfahren wir am nächsten Tag. Wir besuchen einen Ort, der für ein dunkles Kapitel in der Geschichte steht. Und zwar nicht nur in der chilenischen Geschichte, sondern auch in der deutschen.
1961 wanderte eine Gruppe deutscher Aussiedler nach Chile aus und gründete dort die Siedlung „Colonia Dignidad“ – Kolonie der Würde. Die ca. 150 Siedler wurden vom ehemaligen Jugendpfarrer Paul Schäfer angeführt, der auch den Großteil der Gelder aufbrachte, um in Chile Land für die Siedlung zu erwerben. Man kann die Gemeinschaft durchaus mit einer christlichen Sekte vergleichen, dessen Guru Paul Schäfer war. Schnell wurde aus dem von Schäfer gelobten Land ein Vorhof zur Hölle. Familienleben wurde verboten, Männer und Frauen lebten in getrennten Baracken und bekamen ihre Kinder nicht zu Gesicht. Denn die waren einzig für Schäfer bestimmt, der über die Jahre hunderte Male Kinder, vor allem Jungs, missbrauchte. Auf dem Gelände entstand ein Krankhaus, dass für alle Chilenen eine kostenlose Behandlung anbot. Dies deckte aber nur die Gräueltaten, die hier in der Kolonie jeden Tag begangen wurden. Durch die guten Kontakte Schäfers zum Militärregime unter der Führung Pinochets wurde die Siedlung hermetisch abgeriegelt. Stacheldrahtzaun und Selbstschussanlagen. Nur wenige konnten hier entkommen. Die die es schafften zurück nach Deutschland zu kommen, wurden von den deutschen Behörden wieder zurückgeschickt. In der Kolonie wurde des weiterem ein Folterzentrum für das Militärregime errichtet. Als durch einen Presseartikel in aller Öffentlichkeit bekannt wurde, was in dieser deutschen Kolonie passierte, unternahm das deutsche Auswärtige Amt folgendes: Nichts. Es dauerte bis 2004, dass ein chilenisches Gericht Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern anklagte. Dieser war inzwischen geflüchtet und wurde erst 2005 gefasst und 2006 verurteilt. 2010 starb er im Gefängnis. Und die Kolonie der Würde? Viele der Einwohner leben jetzt in Deutschland, anderen Städten Chiles oder gar nicht mehr. Der Name des Ortes wurde in „Villa Bavaria“ geändert, also Bayrisches Dorf. An manchen Stellen erinnern nur noch die Überreste des Zauns an die grauenvolle Vergangenheit. Die Menschen, die heute im Ort leben, möchten mit der Vergangenheit abschließen. Ein Gasthof bietet deutsches Essen im Oktoberfestambiente an. Hier kann man nun Bier trinken und sogar Hochzeiten feiern. Auch wir genehmigen uns bei unserem Besuch ein typisches (und leckeres) deutsches Gericht. Doch ein fader Beigeschmack bleibt. Es fühlt sich einfach nicht richtig an. Einzig ein kleines Museum im Dorf bereitet die Geschehnisse der Vergangenheit auf. Und den Weg hierher mussten wir extra erfragen. Nach dem Besuch brauchen wir erst einmal etwas Zeit, um wieder auf andere Gedanken zu kommen.
Das gelingt uns eine knappe Autofahrstunde entfernt auf einem kleinen putzigen Campingplatz an einem Fluss. Nur zwei andere Familien teilen sich mit uns den Campingplatz und wir kommen nett ins Gespräch. Doch eine davon muss vermutlich in der Nacht unseren Campingtisch geklaut haben, denn der war am Morgen verschwunden. Der Campingplatz war umzäunt und die beiden Familien hatten über Nacht all ihr Zeug draußen liegen. Schon etwas komisch, dass nur bei uns etwas verschwunden war. Es ist zwar „nur“ ein Campingtisch, aber auch ein Eingriff in unsere Privatsphäre. Und schließlich brauchen wir den Tisch jeden Tag. So verließen wir doppelt traurig diesen Ort. Karma schlägt immer zurück und so wird es wohl auch diesen Dieb irgendwann einmal treffen.
Ja, mit dem Karma ist es so eine Sache. Am gleichen Tag suchen wir einen Baumarkt auf, um zu schauen, ob es hier Campingausstattung gibt. Und tatsächlich! Hier gibt es Campingstühle und -tische. Die Auswahl ist natürlich begrenzt, doch wir finden einen der ganz gut passt. Der kommt zudem mit vier Campinghockern. Die brauchen wir zwar nicht, aber die lassen sich schon irgendwo verstauen. Aber den Tisch, den brauchen wir, auch wenn wir dafür 50 Euro bezahlen müssen. Am Auto packen wir den Tisch aus dem Pappkarton, damit wir die Pappe gleich beim Baumarkt lassen können. Und da staunen wir nicht schlecht! Im Pappkarton sind gleich zwei Campingtischsets! Aber wir brauchen doch nur eins?! Wir überlegen kurz und dann bringe ich ein originalverpacktes Set mit dem Kassenzettel zurück und bekomme dafür auch das Geld zurücküberwiesen. Durch die Wechselkursunterschiede bis zur Überweisung haben wir also nur 55 Cent für unseren neuen Tisch bezahlt. Fair, oder?
Bevor es nach Patagonien weitergeht besuchen wir noch einen der vielen Vulkane Chiles. Der Vulkan Villarica ist zudem auch noch aktiv! Tagsüber steigt eine Rauchwolke deutlich sichtbar auf. An seinen Flanken gehen wir wandern und genießen den Blick über die tolle Landschaft. Nachts campieren wir auf dem Wanderparkplatz und staunen, wie eine rote Wolke aus dem Vulkan herauskommt. Etwas mulmig ist uns dabei zwar schon und wir hoffen, dass der Vulkan nicht heute beschließt auszubrechen, aber faszinierend ist es allemal!
Knapp zwei Wochen sind wir nun durch Chile gereist und stehen am Eingangstor zu Patagonien. Der erste Eindruck vom Land ist etwas durchwachsen. Wir durften wunderschöne Natur genießen, einzigartige Landschaften bestaunen und wieder viel Grün sehen. Doch die Herzlichkeit, die wir in Lateinamerika so lieben gelernt haben, scheint in Chile etwas verloren gegangen zu sein. Zumindest war dies unsere Erfahrung. Fast alles im touristischen Sektor ist mit überdurchschnittlichen Eintrittspreisen verbunden, die für Nicht-Chilenen oftmals doppelt so hoch sind. Zudem wurde in einen der reichsten Länder Lateinamerikas uns zum einzigen Mal etwas vom Camp gestohlen. Auch diese Erfahrungen bleiben. Trotzdem freuen wir uns auf die Weiterreise. Denn jetzt geht es in das Sehnsuchtsziel Patagonien. Ein Ziel, dass schon sehr viele Jahre auf meiner Liste steht.
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