Leben und sterben in Varanasi

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Dichter Nebel liegt über dem Ganges. Die Sonne müsste schon längst über dem Horizont geblickt haben, kämpft aber noch mit den Nebelschwaden. Als blutroter Ball präsentiert sie sich wenig später. Ganz unbeeindruckt von der zauberhaft im Wasser sich spiegelnden Sonne verrichtet gerade ein Mann sein Geschäft am Ufer des heiligen Fluss. Es sieht so aus, als würde er sich den Sonnenaufgang anschauen, doch als er sich schließlich aufrichtet, um sein Allerwertesten mit Flusswasser zu reinigen ist mir alles klar. Seine Familie steht nur wenige Meter nebenan und schaut zu.

Ich befinde mich in Varanasi. Varanasi, oder auch Benares, ist eine der ältesten dauerhaft bewohnten Städte der Welt. Es ist kurz nach 7 Uhr morgens und gerade habe ich meinen Morgenspaziergang begonnen. Die Stadt bietet ihren Einwohnern und Besuchern über zahlreiche Treppen, den sogenannten Ghats, einen direkten Zugang zum heiligen Fluss Ganges. Meine Unterkunft liegt unweit des ersten bedeutenden Ghats, den Assi-Ghat. Von hier aus geht es an zahlreichen Ghats Flussabwärts an Varanasi vorbei. An diesen Stufen kann man wunderbar flanieren und so zieht es mich an diesem Samstagmorgen genau dort hin.

Vieles ist heilig in Indien. Anscheinend auch der Papierkorb :)
Vieles ist heilig in Indien. Anscheinend auch der Papierkorb 🙂

Als ich mich dem Assi-Ghat nähere fällt mir auf, dass heute besonders viel los ist. Die Stufen zum Wasser sind überfüllt mit Pilgern. Ein alter Mann ruft mir zu „Boat, Boat“. Eigentlich hatte ich nicht vor ein Boot zu nehmen, aber ohne nachzudenken gehe ich auf den alten Mann zu, verhandle kurz und finde mich wenig später ihm  gegenüber sitzend auf einer Holzplanke. Langsam gleiten wir mit rhythmischen Ruderschlägen über das glatte Wasser durch den Nebel. Die knöchrigen Hände des alten Mannes umfassen fest das Ruder. Zwischen Socken und Hose kann ich seine ledrige, von der Sonne tief dunkel gefärbte Haut sehen. Sein Gesicht ist gezeichnet von zahlreichen Bootsfahrten auf diesen heiligen Fluss.

Mein Kapitän
Mein Kapitän

„Heute ist ein besonderer Tag. Sonne, Erde und Mond spiegeln sich in einer Linie im Ganges. Zu diesem Anlass wird jährlich die Kumba Mela gefeiert“ erklärt mir der alte Mann, der sich wenig später als Puja vorstellt. „Jeder Mensch hat sowohl gute, als auch schlechte Taten in seinem Leben verbracht. Nach einem Bad im Ganges ist man sofort von seinen schlechten Taten reingewaschen“ sagt Puja während er gleichmäßig und scheinbar automatisch die Ruder in das kalte Wasser drückt. „Vor allem zu dieser Festlichkeit kommen Pilger aus ganz Indien, um sich im Wasser des Ganges von ihren Sünden reinzuwaschen“. Es herrscht in der Tat schon ein unglaubliches Gedränge an den Stufen am Ganges. Unbeeindruckt von der Kälte und der sichtbar schlechten Wasserqualität des Flusses tauchen die Menschen ihren gesamten Körper unter Wasser, lachen und unterhalten sich laut. Mir frieren schon im Boot vom alleinigen Sitzen die Füße. Wie muss das wohl im Wasser sein. Staunend schaue ich das Spektakel an, das wie in einem Film an mir vorüberzieht.

Die Menschen am Assi-Ghat versuchen so schnell wie möglich an den Fluss zu kommen
Die Menschen am Assi-Ghat versuchen so schnell wie möglich an den Fluss zu kommen
Alte Paläste stehen am Ufer und zeugen von einer prachtvollen Vergangenheit
Alte Paläste stehen am Ufer und zeugen von einer prachtvollen Vergangenheit
Für uns Europäer ein grenzwertiger Anblick. Für die Hindus ein bedeutendes Symbol
Für uns Europäer ein grenzwertiger Anblick. Für die Hindus ein bedeutendes Symbol
Früh ist schon einiges los
Früh ist schon einiges los

Wenige später passieren wir das erste Verbrennungsghat. „Für einen Hindu ist es das allergrößte am Ufer des Ganges hier in Varanasi verbrannt zu werden. Die Asche wird dann in den Fluss gestreut. An diesem Ghat kostet die Verbrennung um die 2000 Rupien (ca. 30€). Es dauert ungefähr drei Stunden bis der Körper komplett verbrannt ist. Aber das geht auch schneller. Siehst du den großen Schornstein hier?“ fragt er und zeigt auf ein Gebäude direkt neben der Verbrennungsstelle am Ufer. „Hier dauert es nur wenige Minuten bis der Körper verbrannt ist. Das ist auch billiger“.

In dieser Stadt ist der Tod fester Bestandteil des täglichen Lebens. Ich selber muss mich noch daran gewöhnen. Gerade habe ich die Verbrennungsstelle aus sicherer Entfernung gesehen. Aber das sollte sich bald ändern.

Es ist eine sehr angenehme Bootsfahrt. Das Gefälle des Flusses ist so gering, dass ich kaum merke, dass das Wasser fließt. Gefühlvoll taucht mein Bootsführer seine Paddel in das Wasser und treibt uns somit voran. Mittlerweile hat es die Sonne über den Hochnebel geschafft und färbt die Häuserfronten der Gebäude am Flussufer in ein angenehmes Morgenrot. Verträumt sitze ich da und schau auf diese magische Stadt.

Für zwei Tage ist auch ein Drachenfestival in der Stadt. Die ersten Drachen stehen schon am Himmel. Drachensteigen ist hier Männersache und vom kleinen Jungen bis zum reifen Mann liegt die Schnur fest in der Hand und der Kopf ist gen Himmel gerichtet. „Wie viele Drachen willst du heute vom Himmel holen?“ ruft Puja lachend einer seiner Kollegen zu. Dieser schafft es gleichzeitig seinen Drachen durch die Luft sausen zu lassen und sein Boot zu manövrieren. „Ziel ist es mit einer geschickten Bewegung die Schnurr eines anderen Drachen in der Luft zu durchschneiden. Ein anderer sammelt dann den Drachen als Trophäe auf. Doch hier ist alles nur Spaß. Richtige Wettkämpfe gibt es nicht.“ Später am Abend sollte ich dann staunend auf einer Dachterrasse stehen und hunderte Drachen über den Dächern Varanasis im Licht der untergehenden Sonne sehen, begleitetet durch lautstarke Musik aus riesigen Lautsprechern die auf die Dächer gewuchtet wurden.

Das Drachenfestival
Das Drachenfest
Ein beeindruckender Moment
Ein beeindruckender Moment

Auch an den Ghats werden die Drachen steigen gelassen
Auch an den Ghats werden die Drachen steigen gelassen

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Reiseliteratur

Mathias Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Maria Prechtl
    20. Februar 2017
    Antworten

    Hallo, hallo, lieber Mathias, danke für so echt nachzuspülende Situationsschilderungen, prima!

  2. Maria Prechtl
    15. Februar 2017
    Antworten

    In Gedanken war ich grad bei Dir, so richtig im überwältigenden Varanasi samt Gedränge, Getöns, Gestank…
    Danke für Bilder und Berichte
    Maria

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